Sonntag, 3. April 2022

Martin Beyer, Tante Helene und das Buch der Kreise

Ich wurde aufmerksam auf das Buch, weil der Name des Autors  mir nicht unbekannt ist und ich ihn schätze, nicht zuletzt aber weil der Titel mir gefiel. Kaum weniger behagte mir der Klappentext. Ich erfuhr, dass es um die Sechziger Jahre ging - das interessierte mich, da ich gerade Teil 1 meiner Biografie schrieb, der sich mit meiner Kindheit just in dieser Zeit befasst. "Man wusste doch sehr genau, wie und was eine Frau zu sein hatte", las ich und war nun gänzlich angefixt. Das passt ja wunderbar zu meiner Geschichte, dachte ich, da mach ich mich mal schlau.

Auch diese Stelle fiel mir auf: "Warum erzählen eigentlich allermeistens Männer unsere Geschichten? Männer erzählen, von Frauen wird erzählt ... Und eigentlich müsste das doch ganz egal sein. Menschen erzählen von Menschen." Auch der Autor ist ein Mann. Auch er erzählt von Frauen - längst nicht nur von einer.

Er erzählt von Helene, der Protagonistin, Künstlerin, Ehefrau und Tochter zweier Mütter - einer leiblichen und einer Adoptivmutter. Das wären schon einmal drei wichtige Frauen. Eine nicht ganz kleine Rolle spielt Heidi, Helenes beste Freundin und ebenfalls Künstlerin. Außerdem ist da Claudia, Helenes Tochter. Und damit hört es nicht auf ... Dann aber gibt es doch noch einen Mann, einen wichtigen: Alexander, Helenes Neffe. Der reist eines Tages von New York nach Frankfurt, um Helene und das Land seiner Vorfahren näher kennenzulernen. Und um der Wahrheit die Ehre zu geben, beginnt das Buch nicht einmal mit Helene in Offenbach und Frankfurt am Mai, 1962 - 1965, sondern in New York, 2018, mit Alexander im Mittelpunkt. Und im steten Wechsel der Standorte geht es weiter.

Das Buch beeindruckt mich durch Sprache - inklusive so herrlicher Begriffe wie Bienenkorbfrisur, Mondbechermoos oder oder "das Heimchen im Nachthemd". Es beeindruckt mich durch Vielschichtigkeit. Mir gefällt das künstlerische Milieu. Interessant und warmherzig sind die Empfehlungslisten, die Heidi - zu verschiedenen Anlässen - von sich gibt. Das klingt dann zum Beispiel so (anlässlich Helenes Hochzeit): 2. Ziehe nicht nach Bad Camembert (Du bist eine Künstlerin, du gehörst in die Stadt, Peng!) oder 5. Vergiss deine Heide nicht - meine Tür ist immer offen (Pathos, aber du weißt, dass ich das ernst meine)! Und am Schluss, da bleibe ich nachdenklich zurück.

Der Schreibstil ist anders, als ich ihn von unterhaltsamen, vielleicht ein wenig seichten Frauenromanen kenne, wie ich sie gern lese, wenn ich mich entspannen will. Weniger simpel und durchschaubar. Ob das vorliegende Buch eher etwas für Männer oder für Frauen oder einfach für Menschen ist, kann ich am Ende nicht sagen. Eher für Menschen, denke ich. Und wenn sie einen gewissen Anspruch an ihre Lektüre haben, dann passt das gut.

Der Autor: Martin Beyer, Jahrgang 1976, lebt und arbeitet in Bamberg als freier Autor. 2009 erschien sein Debütroman "Alle Wasser laufen ins Meer". Er erhielt den Walter-Kempowskiy-Literaturpeis und den Kultur-Förderpreis der Stadt Bamberg. Er war Finalist beim Bachmann-Wettbewerb. Das vorliegende Buch ist sein dritter Roman.

Martin Beyer, Tante Helene und das Buch der Kreise, Roman, Ullstein-Verlag 2022, gebunden mit Schutzumschlag, 415 Seiten, 23 €.

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