Mangelnden Mut braucht man weder Julia Rothman und Shaina Feinberg vorzuwerfen noch den Menschen, die sich offen auf ihr Gesprächsangebot eingelassen haben. Die sollen stellenweise ausgesprochen befreit und erleichtert gewirkt haben, endlich einmal offen über ihre sexuellen Erfahrungen und Ausrichtungen sprechen zu können und auf wirklich interessierte, verständnisvolle Gesprächspartnerinnen zu treffen. Die beiden Autorinnen nämlich, die just einen Vertrag über ein Buch zum Thema Sex unterschrieben hatten, gingen offensiv vor. Sie fragten in den sozialen Medien und bekamen im Nu Hunderte von Geschichten erzählt. Sie stellten Schilder auf wie "Wir machen ein Buch! Bitte erzählt uns eure anonymen Sex-Storys" oder "Wir würden euch gern anonym für ein Buch über Sex befragen." Was da an Geschichten erzählt und in gut lesbare Form gebracht wurde, ist wirklich erstaunlich. Die Vielfalt an Praktiken, Identitäten, Erfahrungen und Sichtweisen ist groß. Offenbar gibt es nichts, was es nicht gibt. Da sind
- erfolgreiche Manager, die sich mit Wonne erniedrigen lassen
- Eltern, die fälschlicherweise denken, dass ihr 28-jähriger Sohn noch nie Sex hatte
- das Mädchen, das glaubte, schwanger zu werden, wenn ein Junge sie am Allerwertesten berührte
- die Christin, die überzeugt ist, dass Masturbation eine von Gott gewollte Form der Selbstliebe ist
- die etwa 80 Prozent sexuell aktiver Menschen, die sich im Laufe ihre Lebens mit humanen Papillomviren anstecken
- der Sexpartner, die einander freundlich auffordern: "Nenn mich bei meinem Twitternamen"
- die grafisch dargestellte kurze Geschichte des Sexspielzeugs, die erstaunliche Gerätschaften zeigt
- die Frau, die so lange Ovulationsstreifen benutzt und ihren Mann zu Sex auffordert, weil "Zeit fürs Baby" ist, bis jegliche Lust und Spontanität verlorengehen und die die Streifen daraufhin vergisst - nur um wenig später bei einem Musikfestival betrunken und ungeplant schwanger zu werden
- die Vierzehnjährige, die für den älteren Bruder einer Freundin schwärmte, der mit Bier und ein paar Freunden auftauchte, ihr etwas in ihr Getränk gab und sie im Bett ihrer Mom vergewaltigte
- die Frau mitten in der Menopuse mit schweren Hitzwallungen, deren Sex nun eindeutig besser geworden ist
- der Türsteher im Sexclub, der erzählt, wie er dahin kam
- die Domina aus Ghana, Kommunistin, queer und domme, die erzählt, wie sie zu Mistress Velvet wurde
- die Frau, die ein warmes Bad nimmt und die Muschi mit Dr. Bronners Pfefferminzseife wäscht, weil das so schön prickelt, als würde man einen Kaumgumi kauen und direkt danach einen Schluck Wasser trinken
- eine Menge von Geschichten, die sich mit dem Thema Vaginalfurz beschäftigen
- die Erfahrungen einer Frau, die Geschlechtsgenossinnen mit viel Einfühlungsvermögen und Verständnis hilft, eine Schwangerschaft zu beenden, und viel über die Folgen weiß
- ...
Kurz, es gibt so gut wie nichts, was in diesem Buch zum Thema Sex nicht erzählt wird. Ausgefeilte Stories sind ebenso dabei wie kurze Betrachtungen und Interviewbeiträge von nur wenigen Zeilen. Berichte, Erzählungen und Essays. Ehrlich und tabulos wirkend allesamt, teilweise sachlich distanziert, teilweise ganz nah dran, aber niemals pornografisch. Ein sehr informatives, unterhaltsames Buch mit Illustrationen unterschiedlichster Künstler, das einen wahrlich nicht dümmer macht. Wer die schönste Nebensache der Welt liebt, sollte sich dieses Buch nicht entgehen lassen. Wer nachspüren will, dass es im Grunde niemals "nur um Sex" geht, ebenfalls.
Die Autorinnen:
- Julia Rothman ist Journalistin, Autorin und Illustratorin mehrerer Bücher. Zudem ist sie Mitbegründerin von "Women who draw", die die Sichtbarkeit von Künstlerinnen vergrößern will.
- Shaina Feinberg ist Drehbuchautorin und queere Filmemacherin, unter anderem für verschiedene Fernsehsender.
Julia Rothman, Shaina Feinberg, Everybody - Eine faszinierende Reise durch unsere Welt der sexuellen Lust und Identität, Mosaikverlag 2021, Hardcover, 304 Seiten.
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